Ich bin völlig verzweifelt. Mein Leben passiert ohne jede Kontrolle, ohne jede Einwirkung. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich will es auch gar nicht. Ich will gar nichts mehr. Nicht laufen, nicht reden, nicht denken, nichts. Nicht mal essen oder trinken. Selbst das Atmen wäre mir egal, wenn es nicht von allein passieren würde.
Mein Kopf ist nur noch leer und dunkel. Alles rauscht an mir vorbei.
Am liebsten würde ich mich einfach irgendwo eingraben und liegen bleiben. Das geht nicht. Nicht jetzt jedenfalls. Ich muss meine Kündigung schreiben. Es sollte mehr sein als nur „Hiermit kündige ich“ aber ich finde weder Worte, noch die Kraft, das Schreiben zu erweitern.
Ich habe versagt. Ich kann mich nicht von dem Überfall lösen und ich bekomme mein Leben einfach nicht auf die Reihe. Die Kündigung muss sein, weil ich in diesem Zustand nicht mehr arbeitsfähig bin. Das ist erst mal mein Ende. Und es ist mir total egal. Nichts interessiert mich noch.
Bei der Abgabe der Kündigung kann ich keinem in die Augen schauen. Ist es feige? Ich kann das nicht entscheiden. Ich weiss nur, wenn ich nicht gehe, werden sie mich früher oder später schicken. Und das könnte ich nicht ertragen. Es ist jetzt schon schwer. Ein weiteres Versagen wäre mein Tot.
Die darauf folgenden Wochen gehen irgendwie vorüber. Ich quäle mich durch die Zeit. Meistens rauscht alles stumpf an mir vorbei. Ab und zu merke ich, das ich nicht wirklich anwesend bin. Doch selbst in diesen seltenen klaren Momenten kann ich keine Verbindung zu all dem her stellen. Ich bin es, und doch passiert das alles jemand anderem. Es berührt mich nicht.
Am letzten Abend lasse ich mich abholen. Der Abschied passiert anteilnahmslos und kühl. Ich habe nichts zu sagen, ich kann nichts denken. Es passiert genau so eintönig, wie ich auch die letzte Zeit verbracht habe. Als sich hinter mir die Tür schliesst, fällt mir nicht nur ein Stein, sondern ein ganzer Felsbrocken von den Schultern. Endlich weg von diesem schrecklichen Ort. Endlich nicht mehr jeden Tag daran erinnert werden. Es wird lange dauern, bis ich hier wieder rein gehen kann. Und noch länger, den Beiden wieder in die Augen zu schauen und Danke sagen zu können.
Zerschlagen und kraftlos lasse ich die nächste Zeit auf mich zu kommen. Nicht mehr an der Ort zu müssen hilft am Anfang nur bedingt. Ich bin haltlos und treibe durch Stunden, Tage und Wochen.Langsam aber stetig wird die Therapie zum Lichtpunkt.
Ich muss mich dem Ganzen stellen. Dem Warum, der Herkunft. Woher soll ich nur die Kraft dafür nehmen? Muss ich denn nicht schon genug ertragen? Womit hab ich das verdient? Hab ich das überhaupt verdient? Wie komme ich nur davon los? Wie macht man das? Kann ich das? Schaffe ich das? Ich fühle mich so winzig. Ein einzelnes Sandkorn an einem Strand. Die Verzweiflung frisst sich durch meine Eingeweide.
Ich muss da wieder raus. Ich habe keine Ahnung, wie, aber ich muss. Die Therapie hilft, und auch wenn ich einiges zusätzlich zu packen habe, merke ich, das es hilft.
Immerhin weiss ich, das ich aufstehen kann. In dem ich meine Geschichte erzählt habe, zurück geschaut habe, wo her ich komme und wer ich war, hab ich gesehen, das ich bereits mehrfach gefallen bin. Unterschiedlich stark und unterschiedlich tief, aber ich bin aufgestanden. Mit jedem Gespräch wächst die Zuversicht, das ich es auch diesmal schaffen kann. Und das Beiwerk sind kleine und grosse Steine auf dem Weg zum riesigen Berg. In dem ich sie bewältige, wird mir klar, das auch mein Berg aus Steinen besteht. Und ich es bewältigen kann.
Anderthalb Jahre taumel ich von einem Job zum anderen. Oftmals drehe ich mich im Kreis und hab Mühe einen Entscheid zu treffen, eine eigene Meinung zu finden, oder zu wissen wer ich bin. Aber ich lerne mich auch neu kennen. Es ist eine Chance, die zu werden, die ich gern wäre. Obwohl ich eher weiss was ich nicht will, als das was ich will. Schritt für Schritt kämpfe ich mich zurück ins Leben.
Am Anfang halte ich es keine paar Tage irgendwo aus. Nach ein bis zwei Tagen lauern in jeder dunklen Ecke Monster. Jedes Flüstern ist eine Bedrohung. Mein Fluchttrieb macht sich bemerkbar und ich bin weg. Mit Auseiandersetzungen komme ich noch nicht zurecht. Das „Sich wehren“ muss ich erst wieder lernen. Wenn es nicht anders geht, ist das ebenfalls ein Grund, sofort wieder zu gehen.
Ich bin sensibel wie ein Stück neue Haut nach einer Verbrennung. Ich vertrage nichts.
Zum Glück gibt es auch Menschen, die sehen, das man eigentlich nur aus Scherben besteht. Das der Leim noch nicht ganz trocken ist, und die Scherben jederzeit wieder auseinader fallen könnten.
Und so konnte ich in kleinen Etappen weiter genesen. Noch sind Beständigkeit und Routine Fremdwörter. Aber ich erinnere mich wieder daran, das es sowas gibt. Ich kann wieder in einem Restaurant arbeiten. Die Wertschätzung der Gäste ist wie ein kleines Extra, das den Heilungsprozess beschleunigt.
Dann lernt man Kollegen kennen, mit einer ähnlichen Sensibilität. Und plötzlich kann auch ich wieder die Schnitte, Kratzer und Wunden der Anderen erkennen. Es tut gut. Das Zusammensein mit Gleichgesinnten, das nicht allein sein, hilft ebenfalls. Es ist wie das heimkehren in den Schoss der Familie. Man schaut aufeiander. Unterstützt und hilft, wenn nötig und ist sogar in der Freizeit gern zusammen.
Am Ende muss ich erkennen, das es einen dunklen Fleck gibt, der mich immer begleiten wird. Eine Ecke im Herzen, die vernarbt ist und bleiben wird. Ein Zimmer in meinem Kopf, mit einem Warnschild an der Tür. Ich werde ab und an den Schritt rein wagen und den Rest aufräumen müssen.
Das Gefühl am Boden zu liegen ist verschwunden. Ich kann endlich wieder stehen, endlich wieder aufrecht gehen. Ich bin froh um die Hand, die mich diesen ganzen schweren Weg begleitet hat. Gern nehme ich sie in meine. Nicht um mich zu stützen. Sondern vor allem weil sie da ist und es sich einfach toll anfühlt, wieder im Leben zu sein. Mittendrin. Selbstbestimmt.
Auferstanden aus Ruinen? Am Anfang fühlt es sich genau so an. Es ist wichtig, nicht in der Vergangenheit zu leben. Aber genau diese Erinnerungen halfen mir, wieder auf zu stehen. Auferstanden? Ja! Aus Ruinen? Nein, ganz sicher nicht!