Ohne Schlaf gerät selbst das letzte bisschen Leben aus den Fugen.
Ich funktioniere nur noch da, wo ich ein gewisses Mass an Routine hatte. Alles andere fällt der Starre zum Opfer. Mein Kopf gehört nicht mehr mir. Mein Leben auch nicht.
Es ist verschollen, unter gegangen. Die Tage und Nächte verschwimmen ineinander. Ich hab keine Ahnung, was ich tue oder wo ich bin. Wenn ich auf dem Sofa liege kommt meine Kampfzicke und kuschelt sich an. Eine Perserkatze, die sonst lebt, wie Prinzessin auf der Erbse, ist jeden Tag bei mir. Es ist die einzige Nähe die ich wirklich ertragen kann.
Ich sollte schreien, weinen, wütend sein, aber nichts davon schafft es an die Oberfläche. Es ist, als wenn ich mich selbst abgeschaltet hätte. Nur noch ein leere Hülle wo früher mal Leben war, Sonnenschein und Freude.
Der Polizist hat gesagt, ich soll mir Hilfe suchen. Ich kann mich überhaupt nicht aufraffen, auch nur irgendetwas anzufangen. Aber ich muss einsehen, das es so auch nicht weiter gehen kann.
Es gibt Organisationen, die mir helfen können. Ich bin froh darüber aber das Telefonat war sehr erschöpfend. Ich bin nicht sicher, ob ich es schaffe, alles nötige zu organisieren. Ich fühle mich überfordert und hilflos.
Ein paar Tage später bekomme ich besuch von der Krankenkasse. Ich hatte es längst vergessen, lasse ihn aber rein. Mir geht es nicht gut, ich will gar nicht reden, und glaube, das ich ihm nicht werde helfen können.
Es kommt ganz anders. Er hat eine Adresse für mich, Termin gleich morgen, in der Mittagspause. Er kümmert sich um alles. Ich erlaube es, das er die Unterlagen von der Polizei haben darf, und das war’s. Ich bin fertig, und er geht.
Am nächsten Tag geht es in der Mittagspause zum Termin. Die Frau die mir aufmacht ist schon etwas älter und hat bereits einige graue Strähnen im Haar. Sie sieht aus, wie eine dieser Öko- Feministinnen. Ein Batik- Tuch hält die Haare zurück, sie trägt Shirt und Rock aus Leinen, und Bastschuhe dazu. Aber das Lächeln ist nett.
Sie bittet mich einen grossen hellen Raum mit Spielecke und gemütlichen Stühlen an einem kleinen Tisch. Nachdem sie uns etwas zu trinken geholt hat, stellt sie sich vor. Sie ist ausgebildete Therapeutin, arbeitet am liebsten mit Kindern im Teenageralter und hat selbst erwachsene Kinder. Die Betreuung für die Opferhilfe hat sie übernommen, weil sie es nicht nur als Notwendigkeit sieht, sondern auch als Beteiligung an der sozialen Gemeinschaft.
Dann bin ich dran. Ich soll erzählen, wo ich herkomme, was ich bisher gemacht und erlebt habe. Sie möchte erst wissen was bisher so war, bevor ich vom Überfall erzählen soll. Ich gebe einen kurzen Umriss: in der ehemaligen DDR aufgewachsen, raus zu Hause mit 16, erstes Kind mit 18, Scheidung mit 21, mehrere Neuorientierungen in der Nähe des Elternhauses und später der Umzug in die Schweiz. Sie hört nickend zu, notiert das ein oder andere und fragt dann: „Und wie viele Zusammenbrüche hatten Sie bisher?“ „Keinen“ ist meine Antwort, „Das hier ist mein Erster“. Das beschert mir einen längeren prüfenden Blick, aber am Ende ist sie wohl zufrieden mit dem, was sie gesehen hat.
„Wissen Sie“ sagt sie, „mit dem was sie erzählt haben, stünden ihnen mindestens 3 Zusammenbrüche zu. Sie können stolz auf sich sein, das sie das alles aus eigener Kraft geschafft haben. Und es wird ihnen auch hier gelingen. Sie sind eine starke Persönlichkeit“
Mir treten Tränen in die Augen. So hab seh ich mich im Moment überhaupt nicht. Klar hab ich einiges durchmachen müssen, aber muss das nicht jeder? Wachsen wir nicht an den Herausforderungen?
Im Kopf geh ich alles noch mal durch. Früher, also eigentlich vor kurzem noch war ich vielleicht jemand anderes. Und im Moment wäre ich gern wieder so. Ich finde den Weg zu mir nicht. Ich habe keinen Boden, auf dem ich gehen könnte. Sie lässt mich ausweinen, und als mich wieder beruhigt habe erzähle ich von dem Abend. Meinem Unvermögen, meinem Versagen, und der Schwäche mich gegen all das nicht wehren zu können.
Unter Tränen erzähle ich ihr, was ich nicht mal mit meinem Spiegelbild besprechen mag.
Wie konnte ich nur zulassen, das mich diese paar Minuten so wehrlos machen. Wieso war es nicht möglich, diese wenigen Schritte zur Treppe einfach zu tun? Wie kann es sein, das mein Chef sich dem so todesmutig gestellt hat, und ich daran zerbreche? Was ist es, das mich nicht weiter machen lässt? Warum lähmt es mich so sehr?
Es geht mir nicht wirklich besser nach der ersten Sitzung. Vielleicht bin ich sogar noch mehr verwirrt. Aber sie hat mir Hoffnung gegeben. Wenn ich mich dazu entscheiden kann. „Sie haben genau zwei Möglichkeiten“ hat sie am Ende gesagt. „Entweder wir graben uns jetzt da durch, und sehen zu, das es Ihnen wieder besser geht, oder sie vergraben es ganz tief in ihrem Inneren. Aber wenn sie das tun, garantiere ich Ihnen, das es sie wieder finden wird. Und die Intensität, mit der es sie dann plagt wird ein Vielfaches sein. Und keiner kann garantieren, was dann wird.