aufgetauter-flecken-im-schnee-winterlandschaften-37015189Es war kalt im Zimmer, als sie erwachte. Sie schlief immer bei halb offenem Fenster, doch diese Kälte war unerwartet, so durchdringend und allumfassend.

Fröstelnd warf sie sich die Decke über die Schultern, stand auf und taperte barfuß ins Wohnzimmer. Hier war der Teppich nicht ganz so eisig wie das Parkett vorher. Die Dämmerung schluckte alle Farben und ließ die Möbel aussehen, als wären es Schatten. Alles wirkte in diesem Licht, als wäre es eine Kulisse für einen Film, der längst abgesetzt wurde. Es sah aus, als hätte sie hier gestern Abend nicht noch gesessen, hätte nicht noch das Buch gelesen und auch der Kamin schien heute nicht nur erkaltet, sondern tot. War das Glitzern an den Wänden etwa Frost? Hier drinnen? Es lag sicher daran, das sie noch nicht ganz wach war.

Die Kälte streckte ihre Finger aus und versuchte unter ihre Decke zu kriechen. Eine Gänsehaut kroch an ihren Armen hoch. Sie sollte sich etwas anziehen. Mit halb geschlossenen Augen schaute sie nach ihren Zigaretten. Sie lagen auf dem Schemel neben Tür. Als würden sie auf sie warten. Sie schlüpfte in ihre Koalas, die direkt daneben standen. Die Stiefel sind mit Lammfell gefüttert, aber auch davor hatte die Kälte keinen Halt gemacht. Alles schien von ihr eingenommen zu sein. Dann legte sie die Decke über den Sessel, schlüpfte schnell in ihren Wintermantel, schnappte sich die Zigaretten und trat auf die für diese Gegend typische Veranda aus Massivholz, die umgeben war von einem Geländer mit Stützbalken.

Hörbar schnappte sie nach Luft. Hier draußen war es noch kälter. Schnell schloss sie den Mantel und zog dabei den Reizverschluss nach ganz oben. Nichts außerhalb der Veranda war klar zu erkennen. Dichter Nebel waberte durch den Garten und hüllte alles ein.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Dabei fiel ihr auf, wie still es war. Bisher hatte sie keinen Blick auf die Uhr werfen können, aber es musste früh am Morgen sein. Früher als sie sonst auf stand. Zumindest dachte sie das. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss für einen Augenblick die Augen. Die Arme hingen entspannt an den Seiten. Jetzt spürte sie keine Kälte mehr. Einen Wimpernschlag lang wollte sie diesen Frieden tief in sich spüren. Sie wollte ihn genießen und tief in sich aufsaugen. Er war einfach perfekt.

Sie nahm einen tiefen Atemzug, und dann noch einen. Dann öffnete sie wieder die Augen. Jetzt war sie wach. Der Nebel war lichter geworden und man konnte die Bäume rechts und links neben der Veranda ausmachen. Langsam führte sie das Feuerzeug zur Zigarette und zündete sie an. Ganz bewusst inhalierte sie den ersten Zug. Dieser Tag fühlte sich an wie etwas ganz Besonderes. Es war ein Gefühl in ihrem Bauch. Ein Kribbeln, eine Unruhe, die alte Erinnerungen nach oben brachte. Wie früher als Kind in der Nacht vor Weihnachten oder dem Geburtstag. Man kann es nicht abwarten.

Gedankenverloren nahm sie den nächsten Zug. Das Kribbeln breitete sich aus bis in die Fingerspitzen. Sie wollte sich bewegen, blieb aber gedankenversunken stehen. Die Schlieren, die sich im Nebel bewegten, hatten eine hypnotische Wirkung. Als wäre es mehr als nur schlechtes Wetter, mehr als nur Wolken am Boden. Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und atmete den Rauch langsam aus. Der Dunst, der sich vor ihrem Gesicht bildete, löste sich schnell auf. Es war fast, als floh er vor dem Nebel, wollte nicht zu ihm gehören.

Sie starrte in den Garten und wollte einen weiteren Zug nehmen, doch die Zigarette war aufgeraucht. Desinteressiert schnippte sie sie in die Botanik und folgte ihr mit dem Blick. Der Nebel hatte sich weiter zurückgezogen. Der Rasen und die Sträucher waren weiss umhüllt. Im ersten Moment dachte sie, es lag am Nebel aber bei genauerem Hinsehen wurde ihr klar, das es geschneit hatte. Auf dem Gras lagen wenige Zentimeter Schnee. Der Zigarettenstummel lag wie ein schmutziges Ausrufezeichen darauf. Nicht weit neben der Zigarette war ein Fleck. Das Gras an dieser Stelle war ohne Schnee. Braun und trocken standen die Grashalme nach oben. Zuerst dachte sie, sie wäre doch nicht ganz wach. Aber alles starren nütze nichts, der Fleck blieb. 

“Was für ein hässlicher Fleck!” dachte sie und erschrak gleichzeitig über die Intensität des Gefühls, das sie überrannte. Woher kam das? Unbewusst schüttelte sie den Kopf. So viel Hass für dieses kleine Stück Rasen? Es war doch nur ein Fleck. In all dem Weiss wirkte er unfreundlich und deplatziert. In all der Harmonie war er ein Störenfried. Ein häßlicher, unförmiger Fleck, der sie störte. Je länger sie darauf schaute, desto größer schien er zu werden. Das war natürlich nicht möglich. Es lag nur an ihr. Daran, das sie sich nicht davon lösen konnte. Sie könnte es auch als Herausforderung nehmen: daran arbeiten und ihn wieder klein denken. Sie stieß sich von der Wand ab und trat ein paar Schritte vor an das Geländer. Der Fleck blieb unansehnlich. Und er schien wirklich größer geworden zu sein. Lag die Zigarette vorher nicht weiter weg? Ihr Gehirn spielte ihr sicher nur einen Streich. Aber um sicher zu gehen, suchte sie nach einem Referenzpunkt. In all dem Weiss wollte nichts passen. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an, nahm Zug um Zug und wollte sie in Richtung Fleck werfen. Doch es schien, als flimmerte der Rand und die Begrenzung war nicht klar auszumachen.

Das Kribbeln, das vorhin noch wie eine Erinnerung an vergangene Feste war, wurde zu einem Knoten in ihrem Magen. Die Unruhe verkroch sich in den Nacken. Es war, als wären hinter den Erinnerungen noch andere Dinge. Sachen, an die sie sich bisher nicht erinnert hatte. Dinge, die sie warnen wollten vor diesem Fleck.

Vielleicht war Einsamkeit doch keine gute Idee. Ein Kaffee war jetzt bestimmt genau das Richtige. Darum schnippte sie auch diesen Zigarettenrest blind in den Garten und ging rein. Und während sie ihm den Rücken zu kehrte, flog der Stummel genau über den Fleck im Schnee und verschwand mit einer kleinen blauen Flamme im Nichts.

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