In acht Wochen startet mein neuer Job. Das klingt lang, aber in der Zeit sollte ich schnell noch mein Leben aufräumen. Mit Anfang 20 hab ich Schulden, die mich schier erdrücken. Und ich habe mich bisher nicht darum gekümmert. Gescheitert. Versagt. Nicht lebensfähig? Ok, so weit würde ich jetzt vielleicht doch nicht gehen, aber verdammt noch eins! Ich wollte doch alles besser machen. Es sollte doch alles anders werden. Das habe ich leider wirklich nicht geschafft. Ich darf von vorn anfangen. Mit verschärften Startbedingungen. Das Leben, Part eins, Versuch zwei.

Das mit dem Geld hab ich irgendwie nie richtig gelernt. Mit 16 zu hause raus, da waren die Möglichkeiten vielleicht auch etwas eingegrenzt. Es lief ja mehr oder weniger, aber für Probleme war ich nicht gewappnet.

Meine Mutter hat klar ziemlich gemacht, das alles erledigt sein muss, bevor ich hoch fahre. So sitze ich also über den Papieren, das Chaos muss sortiert werden. Dann muss ich mich hinsetzen alles zusammen rechnen und danach entscheiden, wer wie lange wie viel bekommt, um es abzuzahlen. Das ist der schwerste Part. Nicht das Abzahlen. Das Hinschauen wie viel es wirklich ist. Allein bei dem Gedanken wird mir übel. Mir flattert das Herz, am liebsten wäre ich irgend wo anders, aber es muss sein. Am Ende hocke ich heulend in der Stube. Die Ohnmacht, es nachträglich zu verhindern und die Scham es soweit kommen gelassen zu haben sind übermächtig. So viel hatte ich nicht erwartet, ich bin schockiert.
Ich hab alles sortiert, summiert und sogar letzte Belege angefordert. Es fühlt sich an, wie ein riesiger Stein auf meiner Brust. Ich kann kaum atmen und weiss nicht, wie ich damit umgehen soll. Es ist einfach zu viel. Ein Berg türmt sich vor mir auf, ich bin so winzig. Das kann ich nicht schaffen. Am liebsten würde ich mich in irgend einer Ecke verkriechen, bis alles vorbei ist.
Im Inneren weiss ich, das das auch Blödsinn ist. Ich muss etwas tun, um davon wieder los zu kommen. Aber jetzt, wo alles noch vor mir liegt, fehlt jegliche Hoffnung, das es möglich ist.
Die acht Wochen vergehen im Flug. Arbeiten, schlafen, Briefe und Telefonate beantworten, arbeiten, schlafen…
Am Ende hab ich bekommen was ich wollte, und kann so abzahlen wie ich es geplant habe. Immerhin. Wieder packe ich und wieder passt alles in meinen Golf. Jetzt fahre ich allein hoch. Ich bin die Erste, aber zwei weitere Kollegen kommen im Laufe es Abends noch an. Sie heisst Susi und schafft im Service, er heisst Jens und ist der Koch.
Wir sitzen zusammen in meinem Zimmer. Es ist das Grösste, und ich hab eine Kaffeemaschine mitgebracht. Susi spendiert später Wein. Der erste Abend geht gemütlich zu Ende.
Frühstück gibt‘s bei Lehmanns um halb zehn. Der Koch fängt eher an, der Service später. Es ist immer noch kalt, und so  fahre ich die kurze Strecke allein mit dem Auto. Dafür gibt einen strengen Blick vom Chef. Das gibt‘s in der Saison dann nicht, werd ich belehrt, aber er lächelt dabei. Nach dem Frühstück weist mich Herr Lehmann in den Laden ein. Im Grunde bin ich den ganzen Tag allein. Er kommt zur Ablöse zum Mittag und abends zum Abrechnen. Ansonsten nur bei wirklichen Problemen, und zum Schinken auslösen.
Das ist etwas ganz spezielles. Direkt über dem Kühltresen mit den Spezialitäten aus Holstein und Franken hängen 12 ganze Schinken. Jeder mindestens 12 kg schwer. Diese nimmt der Chef selbst auseinander. Er ist Bäcker- und Konditormeister, kennt alle Rezepte der Küche und beint die Schinken selber aus. Ich bin tief beeindruckt. Wir starten in die Vorostersaison, und die ersten 10 Schinken müssen direkt dran glauben. Es ist ein Schauspiel wie schnell und exakt er schneidet. Er trägt einen Kettenhandschuh und eine Schürze, ebenfalls aus Ketten. Jeder Schnitt sitzt da wo er hin soll, Knochen werden fachmännisch frei gelegt und separiert. Es roch ja bereits nach Schinken, aber jetzt wird es viel intensiver. Die Teile werden vakuumiert und gewogen. Alles auf einem Aufkleber vermerkt, Preis drauf, fertig ist das Stück zum Verkauf. Ein paar Einzelteile bleiben liegen, die werden im Anschluss in Scheiben geschnitten. Ich bekomme gezeigt, wie ich einzelne Pakete in Scheiben fertig mache. Diese werden auch vakumiert und ausgezeichnet. Einen Teil legen wir direkt im Laden aus, der Rest geht ins Kühllager, Vorrat für die Abreisetage. Es kommt eine ganze Menge zusammen, aber wenn es stimmt, was Herr Lehmann sagt, wird das bereits wieder vor Ostern weg sein, und wir müssen mehr machen. In der Saison ist es dann das Vielfache. Mein erster Tag ist irgendwann rum, ich esse im Restaurant mein Abendessen und kann heim. in diesem Rhythmus vergeht die erste Woche. Susi und Jens arbeiten länger und sind nicht vor elf zurück.
Was mir bleibt ist das Handy. Am Anfang sind 60 sms täglich wie der Faden, der mich daran erinnert, das es ein Leben zum jetzigen Ablauf gibt. Aber im Laden habe ich keinen Empfang, so das nur die Abende bleiben. Und so werden 60 sms mehr und mehr zur Qual. Und zur Einsicht, das es das Leben aus dem ich kam nicht mehr geben wird, wenn ich zurück komme. Zusätzlich machen sie die Einsamkeit nur noch deutlicher. Das Wetter spielt nicht wirklich mit. Meistens ist es kalt und regnerisch. Der Wind lässt nicht nach, und gefühlt ist es darum tiefster Winter, eisig kalt. Ich muss hier raus. So kann es nicht weiter gehen. Allein grübel ich nur. Der Weg zum Strand ist in 10 Minuten geschafft. Also geh ich nach dem duschen wieder runter. Bisher hab ich mir noch nicht die Zeit genommen, die gesamte Promenade ab zu laufen. Von der Seebrücke halte ich mich links. Diese Seite kenne ich noch gar nicht. Neben einem Volleyball- und einem Kinderspielplatz finde ich weitere Restaurants, einen Bilderverkauf, Minigolf, ein Schwimmbad, verschiedene Strandkorbverleiher und ganz am Ende einen Parcours für Skatebord oder Inliner. Viel weiter komme ich direkt am Strand auch nicht. Ein kleiner Zufluss versperrt mir den Weg. Ich mag auch nicht mehr. Hier unten scheint nichts weiter los zu sein.Weiter hinten sehe ich Gebäude und nehme mir vor, an einem anderen Tag weiter zu schauen. Zurück also zur Seebrücke und dem oberen Teil. An dem Morgen mit Mike waren überall die Rolläden unten. Heute sehe ich verschiedene Imbisse, Kioske, Verkauf von Schmuck und Textilien, und Bars und Restaurants. Es hat ein kleines Carrèe da ist eine Bar neben der nächsten. Sie sehen klein und gemütlich aus, und ich geh einfach in die erst Beste rein. Hinter der Bar ein dickbäuchiger Kerl, offenes Hemd und Goldkettchen. Das alles perfektioniert durch den Schnurrbart und das goldene Armband. Er grüsst freundlich und ich setze mich an die Bar. Es ist noch leer. Weiter hinten sind noch 3 kleine Tische, einer davon ist von einem Päärchen besetzt, das war‘s. Ich bestelle eine Cola und wir kommen ins Gespräch. Er ist nett, hat die Bar schon eine Weile. Er führt sie mit seiner Frau. Sie macht arbeitet morgens für die Frühstücksgäste, er am Abend. Martin und Sonja heissen sie. Wir schwätzen über alles und nix, ich bin entspannt und kann mich wohl fühlen. Später traue ich mich, und frage, ob er in der Saison vielleicht noch Hilfe braucht. Die Idee kam spontan, macht aber sofort Sinn. Die Bar ist klein, und in der Saison hilft seine Frau aus. Nebenan, der Herbert würde vielleicht noch jemanden brauchen, sagt er. Einerseits bin ich froh, hatte ich überhaupt den Mut, wenn ich aber jetzt nicht frage ist der Job später vielleicht weg. So bedanke ich mich für das nette Gespräch, zahle, und gehe eine Tür weiter. Die nächste Bar noch kleiner. Ich trete ein und stehe direkt an der Bar. Links an der Wand verläuft eine Bank, davor ein grosser Tisch für 6 und ein etwas kleinerer für 4. Nach dem Tisch kommt nur noch die Tür zum WC und das Ende der Bar. Dahinter steht schon wieder ein Dickbauch. Wildes krauses Haar, ebenfalls Schnurrbart und eine Brille. Er ist mit einem Strickpulli bekleidet, und ich muss ob der Erscheinung einfach Grinsen. Zwei Dickbäuche mit Schnurrbart an einem Tag, Tür an Tür. Herrlich! Ich geh um die Bar rum, und stelle mich direkt mal vor. Ich erzähle ihm, das Martin ihn empfohlen hat, und frage ebenfalls nach einem Job.
Er heisst Herbert, und freut sich, mich kennen zulernen. Und noch mehr freut er sich, das ich arbeiten möchte. Wo ich denn her komme, will er wissen. Und welche Erfahrung ich mitbringe. Ich erzähle ihm, das ich im Schinkenladen weiter unten an der Promenade arbeite, und zu hause schon in der Gastronomie gearbeitet habe. In welchem Schinkenladen will er wissen, Und als ich ihm sage, das es der Laden von dem Lehmanns ist, sehe ich Verständnis. Im schönsten Norddeutsch erklärt er , ahh ja beim Hans, klar, den kenn ich. Es klingt wie „aah, jia den Haans, klaar, den keen ii.“ Der Dialekt ist mir sofort sympatisch. Ich hab den Job und kann in der Vorsaison abends einfach mal vorbei kommen. Zum einarbeiten und alles kennen lernen und so. Ein Kellnerportemonnaie stellt er mir, wenn ich will. Das Angebot nehm ich bis Ostern gern an. Ich hätte nichtmal das Geld für den Stock.
Die Einsamkeit ist immer noch da. Das wird wohl auch eine Weile so bleiben. Durch den zweiten Job seh ich eine Chance, nicht so oft daran denken zu müssen. Und der zusätzliche Verdienst wird mir helfen, meine Schulden zu begleichen. Nach Ostern geht es noch mal für 10 Tage heim. Ich kann es kaum erwarten.

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