Ein älterer Beitrag, durch aktuelle Ereignisse wieder angestupst.
Wir tragen Verantwortung für unsere Entscheidungen. Manchmal nicht nur für unsere Person, für unsere Zukunft. Darum ist es wichtig, dass wir achtsam bleiben gegenüber dem, was man uns auferlegt.

 

Die Saat

Angelika Dyllong

 

Bis gestern war ich einer der geachtetsten Einwohner dieser Stadt. Ein wertvolles und anerkanntes Mitglied dieser Gesellschaft. Jetzt stand ich als Gejagter am Ende meiner Existenz.

Ich war auf dem Turm mitten in der Stadt und genoss einen letzten Blick. Unter mir verschwanden das Leid und das Elend, das ich verursacht hatte, in den Schatten der Häuserschluchten. Die Infizierten, deren krampfende, von Malen gezeichneten Körper ich nicht mal sehen musste.

Ich kannte sie alle genau, weil ich diesen Virus gebaut hatte. Weil ich der Einzige war, der es hätte tun können. Nur ich, nur mein briliantes Gehirn, konnte etwas so Böses schaffen: Eine ansteckende Krankheit, die den Abschaum dieser Welt vernichten sollte. Nun lagen sie zu meinen Füssen. Mit Schaum vor dem Mund, in schwerer Atemnot. Der kleine Mann, der Arbeiter, der Strassenfeger oder der Müllmann. Ein paar Tropfen in die Abwässer dieser Stadt hatten genügt.

Während unter mir jeder Arbeiter und jedes Kind schwer keuchend nach Luft rang, verteilte ich, langsam den Turm umrundend, meine Samen. Sie waren klein, federleicht und drangen durch jede Ritze. Und während der Schaum wie ein Filter die  Ansteckung der bereits Kranken verhinderte, würden meine Auftraggeber den verdienten Tod finden. Denn die Reichen und Mächtigen dieser Stadt hatten mich gezwungen, dieses erste Virus zu bauen und zu verteilen. Und jetzt schütze sie nichts vor meinem zweiten, den ich extra für sie konstruiert hatte.

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